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10/23/2011

LEBEN


Die Namenlosen

Und dann der Aufprall. Einfach so.
Den Moment kaum erfasst und ich stehe da und weine.
Innerlich.
In dieser erbärmlichen Welt mit diesen nichtssagenden Menschen
Und ich schreie.
Und dann taucht es auf, das Bild:
Du in mir und das Gefühl, wie du dich in mir ergießt.
Und die Welt steht für einen Moment still.

Eine Sekunde bin ich vor dem Moment des Erbrechens.
Die Szenerie verdoppelt sich.
Plötzlich sind da zwei große Probleme.
Der moderne Faschismus, das personenbezogene
Aussortieren innerhalb der deutschen Multikulti-Spaßgesellschaft.
Nicht zu vergessen die ständig aufgerissenen Seelen.

Meine Sprache stockt.
Wenn du mich suchst, ich stehe genau neben mir.
Hastig und euphorisch greifend nach Glück, nach Anerkennung.
Greifend nach ewiger Freiheit.
Der Möglichkeit des Seins.

Seid endlich still!
Darf ich leben, nachdem die Ruhe mich brach?

Plötzlich der Aufprall, die Glieder erwacht.
Die Augen geöffnet, euch immerzu trotzend.
Während wir im stillen Kämmerlein leise weinen.


Nina Esther Palme („Die Namenlosen“ / Nürnberg, Oktober 2011)






Hirsch und Rakete (und andere) teilen aus


Oder: Der moderne Faschismus Nürnbergs



Es ist Sonntagabend, der 2.10.2011.  Prinzipiell kein Tag zum Weggehen, allerdings ist der nächste Tag der Tag der Deutschen Einheit und somit Feiertag. Die sonst typische Freitag- oder Samstagabend-Panik schlägt zu Buche: Was anziehen? Letzte SMS und Facebook-Nachrichten mit Freunden austauschen, sich vorher mit Freunden verabreden. Das Outfit steht: Rotfuchs-Stirnband, Murmel-Schalkragen, 50er Jahre Wollmantel in A-Form, Vintage Chelsea Boots von JOOP!, eine Cheap Monday Jeans, ein Long-Shirt und ein selbstgenähter rostfarbener Überwurf. Schlicht, für meine Verhältnisse beinahe langweilig. Zigaretten, Ausweis und Geld in die Krokodilleder-Tasche gepfercht und auf geht’s!



Man trifft sich mit Freunden auf ein, zwei Gläser Wein, plaudert über Lapidares, genießt die unendliche Sinnentleertheit – gleich geistige Entspannung - und bricht nach einer Stunde in Richtung „Hirsch“ und „Rakete“ auf, wo ein absolut umwerfendes, von beider Clubs initiiertes Event stattfinde: „Mothership präsentiert: Monika Kruse“.

Auch wenn mir der Name der scheinbar unwahrscheinlich berühmten Techno-DJane nichts sagte, dachte ich mir, es sei eine gute Idee, der  Wirtschaft durch den Eintritt von 15€ einen Tritt zu verpassen.

In der Vogelweiherstraße angekommen stehen wir zu viert im Kreise anderer Freunde vor einer Horde an Menschen. Ich überlege zunächst, ob wir falsch abgebogen und durch ein schwarzes Loch ins Nachkriegsdeutschland zurück katapultiert worden waren, wo hunderte Menschen für eine Schale Suppe anstanden. Oder ob letzte Hamsterkäufe wegen des Feiertages vorgenommen wurden, oder ein Mittel gegen jugendliche Facebook-Neurosen und –Psychosen angeboten wurde. Aber nein, es war der ganz ernst gemeinte Ansturm auf Frau Kruse. So stehen wir also zu zweit (die anderen beiden wollten keine Stunde warten) in einer 50 Meter langen Schlange vor einem Club. Währenddessen sticht mit etwas (metaphorisch gesprochen) im Hinterkopf: „Warum stehst du hier an? Um 15€ zu zahlen?!“

Eine dreiviertel Stunde später sind wir kurz nach 0.00 Uhr angelangt, um das gutverdiente Geld in anderer Hände überlaufen zu sehen.

Keine fünf Minuten nach einem Gewühl durch diese Unmenge an 16- bis 40-Jährigen und ich werde mit meiner Freundin nebendran von zwei ungefähr 18-Jährigen angesprochen, ob das echter Pelz sei, was ich bejahe. Die zwei fangen nun an, statisch aufgeladen die Stirn in Falten zu legen und meinen, ihre Meinung lautstark kundtun zu müssen, wie „scheiße“ Pelz sei. Mir bleibt nichts anderes übrig, als „Und das sind sicher keine Lederschuhe und ihr seid gewiss Veganer?!“ festzustellen, worauf wir die  höchst Empörten und vor den Kopf Geschlagenen zurücklassen und fünf Minuten tanzen.
Als ich mich auf eine Zigarette nach draußen stehle, meint einer der Türsteher zu mir, wenn noch einmal etwas sei, flöge ich raus. Ich weiß überhaupt nicht, was er meint, woraufhin er meint, zwei Mädchen hätten sich über mich beschwert und dass er mich rausschmeißen würde, sollte das nochmals vorkommen.
Nun gut. Sich mit russischen Schränken alias Türstehern anzulegen, ist gleichzusetzen mit den Zeugen Jehovas, die auch nur auf verschlossene Türen und Unverständnis treffen, teils verlacht werden.
Deshalb verlasse ich den Club für die geplante, dramatisch überfällige Zigarette und treffe auf meine völlig aufgelöste beste Freundin, die ich im Getümmel verloren hatte.
Sie hatte einen Kerl einen Monat lang gedatet, darauf mit ihm geschlafen, wonach er sich höchst eigenartig, aversiv und uninteressiert gezeigt hatte. Seine Freunde meinten zu meiner Freundin, er sei in einer existentiellen Krise, einer Selbstsuche. Und sie wüssten selbst nicht einmal wirklich, was mit ihm los sei.
Nun hatte sie ihn allem Anschein nach in dem Club bzw. in einem der beiden wieder gesehen und gesprochen. Sie meinte, er habe fünf Koffeintabletten genommen, sich einen Joint einverleibt und das Ganze noch mit viel zu viel Bier abgesegnet. Also hatte er seinen Rucksack verloren und war kaum ansprechbar. Man sitzt bei bitterer Kälte vor einem 15€-Eintritt-Club und fragt sich, wieso eigentlich. Während ich mir die Geschichte vom abgestürzten, eigentlich so charmanten, klugen Ex-Beinah-Freund anhöre, kommt ein Bekannter auf mich zu. Nett, etwas überdreht. Warum er mir versichern muss, dass er fünf Koffeintabletten geschnupft und ein paar Liter Bier dazu gemengt habe, verstehe ich nicht. Auf die, meiner Meinung nach absolut legitimiert schockierte Frage, warum er so etwas tue und sich selbst mit 16 Jahren zu Grunde richte, sagt er, dass er das immer tue.
Mit meinem Gesicht voller Zweifel, die sich in Stirn und Augen abzeichnen, gehe ich zurück, um noch ein bisschen zu tanzen. Zeuge Jehovas ahoi! Der Türsteher: „Du kommst hier nicht mehr rein. Hast Hausverbot. Auch in der Rakete drüben. Du hast die beiden Mädchen sexuell belästigt.“. Wenn sich meine Mimik als Zeichen eines noch größeren  Schocks und gewaltigerer Sprachlosigkeit verziehen kann, so tut sie es.
Ich versuche, mit möglichst klaren, simplen Worten, den Türsteher zu überzeugen, dass dies schlichtweg Verleumdung und eine dreist-falsche Unterstellung sei, da ich erstens schwul bin und die Geschichte so begann, als die beiden Mädchen mich ansprachen. Und von Sexuellem keine Spur. Sie hatten auf dem Pelzstirnband herum gehackt. Das war alles.
Gut, Tür zugeknallt, der Türsteher wird ausfallend und ich gehe. Richtung „Rakete“, dem dazugehörigen Club nebenan und frage dort nach, woher diese Schauermär rühre. Der dortige ist etwas höflicher, aber genauso homophob und uneinsichtig. Mit einer gewaltigen Wut und zugleich so müden Resignation im Magen, frage ich mehrmals nach den zwei Mädchen, die ich angeblich belästigt haben soll.
Mr. „Taub“ meint nur, dass die Chefin die Geschichte mitbekommen und ich deshalb Hausverbot habe. Auf mein Drängen, die Chefin wegen der Angelegenheit sprechen zu wollen, um zu erfragen, was denn ausschlaggebend gewesen sei, geht der Türsteher erst nach gefühlten fünf Bitten ein. Ob er sie wirklich gesucht hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall kommt er nach ein paar Minuten wieder und schickt mich fort, mit der Begründung, sie wolle nicht mit mir sprechen und ich solle das Gelände verlassen. Innerlich brodelnd, äußerlich gediegen, fällt mir nichts Besseres ein, als dem Russen zu sagen, dass ich Pelz tragen würde, bis mir die Beine abfallen würden, und die „Rakete“ und der „Hirsch“ nicht einmal mehr einen Fitzel meines Arschlochs zu Gesicht bekämen, was er der Chefin gerne mit freundlichen Grüßen ausrichten könne. Dass er das getan hat, wage ich zu bezweifeln.
Um mein verpulvertes Geld zurückzufordern, lief ich zur Kasse vor dem „Hirsch“ und just kommen zwei Russen auf mich zu. In einem äußerst unfreundlich barschen Tonfall versichern sie dem Zeugen Jehovas, der diesmal auf eine doppelte Wand trifft, dass es keine Rückerstattung des Eintritts gäbe und ich das Gelände verlassen solle.
Der eine drückt den weißen Wollmantel und mich zum Eingang hinaus. Ich koche weiter innerlich.
Draußen treffe ich wieder auf alle Freunde, erzähle die Geschichte, die jeder mit einem erstaunten, schockierten, entsetzten, zweifelnden Blick und offenem Mund, oder Gezeter über das ignorante, homophobe Türsteher- und Chefinnen-Volk besiegelt.
Meine Freundin ist noch immer in einer Phase des erstaunten Entsetzens über den Missbrauch der Koffeintabletten, die eigentlich vor ein paar Jahren „in“ gewesen sind und anscheinend ein Comeback durch die Nase erlebten. Kein Koks-Chic, sondern Koffein-Chic.
Man könnte meinen, man sei in den schlimmsten Kreisen anzutreffen, was aber bei weitem nicht der Fall ist. Im Gegenteil. Die meisten meiner bzw. unserer Freunde sind kreative, gebildete, belesene junge Frauen/Männer. Und trotzdem gilt es noch so viel, das Ego durch pausenlose Selbstreflexion durch andere zu stärken. Obwohl es nur schwächt und krank macht.
Vor den Clubs berichtet mir ein guter Freund, der Fotograf bei dem „Curt-Magazin“ ist, dass er wie immer auf der Gästeliste stand, reingegangen ist, „abgestempelt“ wurde und ein paar Fotos gemacht hatte. Als er nach einer Zigarette wieder hinein will, meinen die Türsteher nur, dass er nicht mehr auf der Gästeliste stünde. Abgestempelt!
Einem Tollwutausbruch ebenso nahe wie ich und meine beste Freundin, überlegten wir alle, was wohl in den abgehobenen Schädeln der Türsteher und Chefs vor sich ginge. Meinten sie, ihre beiden Clubs seien unantastbar und derart exklusiv, dass sie alles mit den zahlenden Gästen machen konnten, wahnsinniger Drogen-Massenkonsum allerdings ungeahndet blieb?
Paradox, aber wahr: Man kann sich in einem Job als Fotograf für ein Magazin einen guten Namen machen, tolle Bilder schießen und aus einem Club ohne jeglichen Grund rausgeschmissen werden. Man kann sich gut anziehen, höflich und nett verhalten, und aus einem Club ohne jeglichen Grund rausgeschmissen werden. Man kann sich betrunken, benebelt, aggressiv, koffeiniert, 16-jährig  in einen Club schleichen, wird zur Gänze in einem Club akzeptiert.
Als meine Freundin und ich die Nase gestrichen voll haben (nicht von Koffeintabletten, wie sich von selbst versteht), brechen wir unbefriedigt und beschämt zu ihr nach Hause auf. Als wir am Hauptbahnhof auf den Bus warten, kommt eine (geschätzt) 16-Jährige zu mir, die dem ohnehin bereits fabelhaften Abend noch ein Krönchen aufsetzt: „Boah, bist du eklig!“. Mein und das Gesicht meiner Freundin bis zur Unkenntlichkeit in Falten des Unverständnisses verzogen. Facebook prallt auf die reale Welt. Jeder sollte verstehen, dass es hier nicht wie auf Facebook zugeht, wo jeder zu allem, sei es nun zu 3000 Bildern, Kommentaren, Pinnwandeinträgen, Nachrichten, „Likes“ usw., seinen Senf dazu geben kann. Alles kann dort kommentiert werden und das kann wiederum „geliked“ werden, sprich, als der eigenen Meinung entsprechend erklärt werden. Profilierung und Selbstreflexion par excellence. Keiner sagt auf facebook, dass dieser und jene Kommentar völlig daneben, überflüssig sei oder unter die Gürtellinie ginge. Nein, zumeist werden diese noch geliked und gefeiert, der überkommunikative, so unsichere und Bestätigung suchende Alles-Kommentierer fühlt sich in der Tat bestätigt.
Und der Unterschied von einer sinnfreien Website, die mittlerweile das reale Leben per Handy unheimlich weit berührt, zum realen Leben wird verschwindend gering. Wie oft mir wegen eines Outfits, einer Frisur, oder was auch immer, ein dummer Kommentar an den Kopf geworfen wird, möchte ich hier aussparen. Hier ist NICHT facebook, sondern die Welt, in der nicht alles kommentiert und gepostet werden darf. Es interessiert niemanden, ob man sich hier massig profiliert und Statements zu Pelzen, Schuhen, Frisuren abgibt oder nicht.
Ich kam nicht umhin mich zu fragen, warum meine Freundin und ich in dieser von Facebook-, Drogen-, Alkohol- und Profilierungssucht geschändeten jugendlichen Szene verkehren, die so falsch ist, wie die 100 „Louis-Vuittons“ an speckigen Armgelenken von 14-jährigen H&M-Shopaholics. Eine weitere Frage nach dem Abend: Wäre es nicht eine gute Idee, in einem mit Exkrementen beschmierten Müllsack und auf Highheels das Haus zu verlassen? Schlimmer könnten die verbalen Geschosse nicht mehr werden.
Dritte Frage: 15€ für gar nichts. Warum sind wir nicht für das Geld ins Theater oder in ein Museum gegangen?

Aber letztlich bleiben alle Fragen unnütz. Geschehen ist geschehen. Ein die Augen öffnender, ein wenig Würde, Geld, Schlaf, Zeit und Energie raubender Abend.

Um für mich zu sprechen: Diese beiden Clubs, die sich so elitär und zugleich so armselig im Geiste bescheiden verhalten, werden keine Spur mehr von mir oder meinen Freunden zu sehen bekommen. Sie mögen doch bitte wieder auf den Boden kommen. Monika Kruse kannte ich nicht, hatte sie noch nie gesehen. Und das kann ich genauso heute noch im Präsens behaupten. Den Zeugen Jehovas wurde eine präsente, gewaltige Tür vor der Nase zugeschlagen, was sie wachgerüttelt hat, und sie sind nun dabei, eine offen stehende zu finden, die in einen angemessenen, würdevollen Raum führt. 





Max-Michael Böhner

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