Die Namenlosen
Und dann der Aufprall. Einfach so.
Den Moment kaum erfasst und ich stehe
da und weine.
Innerlich.
In dieser erbärmlichen Welt mit diesen
nichtssagenden Menschen
Und ich schreie.
Und dann taucht es auf, das Bild:
Du in mir und das Gefühl, wie du dich
in mir ergießt.
Und die Welt steht für einen Moment
still.
Eine Sekunde bin ich vor dem Moment des
Erbrechens.
Die Szenerie verdoppelt sich.
Plötzlich sind da zwei große
Probleme.
Der moderne Faschismus, das
personenbezogene
Aussortieren innerhalb der deutschen
Multikulti-Spaßgesellschaft.
Nicht zu vergessen die ständig
aufgerissenen Seelen.
Meine Sprache stockt.
Wenn du mich suchst, ich stehe genau
neben mir.
Hastig und euphorisch greifend nach
Glück, nach Anerkennung.
Greifend nach ewiger Freiheit.
Der Möglichkeit des Seins.
Seid endlich still!
Darf ich leben, nachdem die Ruhe mich
brach?
Plötzlich der Aufprall, die Glieder
erwacht.
Die Augen geöffnet, euch immerzu
trotzend.
Während wir im stillen Kämmerlein
leise weinen.
Nina Esther Palme („Die Namenlosen“
/ Nürnberg, Oktober 2011)
Hirsch und Rakete (und andere) teilen aus
Oder: Der moderne Faschismus
Nürnbergs
Es ist Sonntagabend, der
2.10.2011. Prinzipiell kein Tag zum
Weggehen, allerdings ist der nächste Tag der Tag der Deutschen Einheit und
somit Feiertag. Die sonst typische Freitag- oder Samstagabend-Panik schlägt zu Buche:
Was anziehen? Letzte SMS und Facebook-Nachrichten mit Freunden austauschen,
sich vorher mit Freunden verabreden. Das Outfit steht: Rotfuchs-Stirnband,
Murmel-Schalkragen, 50er Jahre Wollmantel in A-Form, Vintage Chelsea Boots von
JOOP!, eine Cheap Monday Jeans, ein Long-Shirt und ein selbstgenähter
rostfarbener Überwurf. Schlicht, für meine Verhältnisse beinahe langweilig.
Zigaretten, Ausweis und Geld in die Krokodilleder-Tasche gepfercht und auf
geht’s!
Man trifft sich mit Freunden auf
ein, zwei Gläser Wein, plaudert über Lapidares, genießt die unendliche
Sinnentleertheit – gleich geistige Entspannung - und bricht nach einer Stunde
in Richtung „Hirsch“ und „Rakete“ auf, wo ein absolut umwerfendes, von beider
Clubs initiiertes Event stattfinde: „Mothership präsentiert: Monika Kruse“.
Auch wenn mir der Name der
scheinbar unwahrscheinlich berühmten Techno-DJane nichts sagte, dachte ich mir,
es sei eine gute Idee, der Wirtschaft
durch den Eintritt von 15€ einen Tritt zu verpassen.
In der Vogelweiherstraße angekommen
stehen wir zu viert im Kreise anderer Freunde vor einer Horde an Menschen. Ich
überlege zunächst, ob wir falsch abgebogen und durch ein schwarzes Loch ins
Nachkriegsdeutschland zurück katapultiert worden waren, wo hunderte Menschen
für eine Schale Suppe anstanden. Oder ob letzte Hamsterkäufe wegen des
Feiertages vorgenommen wurden, oder ein Mittel gegen jugendliche
Facebook-Neurosen und –Psychosen angeboten wurde. Aber nein, es war der ganz
ernst gemeinte Ansturm auf Frau Kruse. So stehen wir also zu zweit (die anderen
beiden wollten keine Stunde warten) in einer 50 Meter langen Schlange vor einem
Club. Währenddessen sticht mit etwas (metaphorisch gesprochen) im Hinterkopf:
„Warum stehst du hier an? Um 15€ zu zahlen?!“
Eine dreiviertel Stunde später
sind wir kurz nach 0.00 Uhr angelangt, um das gutverdiente Geld in anderer
Hände überlaufen zu sehen.
Keine fünf Minuten nach einem
Gewühl durch diese Unmenge an 16- bis 40-Jährigen und ich werde mit meiner
Freundin nebendran von zwei ungefähr 18-Jährigen angesprochen, ob das echter
Pelz sei, was ich bejahe. Die zwei fangen nun an, statisch aufgeladen die Stirn
in Falten zu legen und meinen, ihre Meinung lautstark kundtun zu müssen, wie
„scheiße“ Pelz sei. Mir bleibt nichts anderes übrig, als „Und das sind sicher
keine Lederschuhe und ihr seid gewiss Veganer?!“ festzustellen, worauf wir
die höchst Empörten und vor den Kopf
Geschlagenen zurücklassen und fünf Minuten tanzen.
Als ich mich auf eine Zigarette
nach draußen stehle, meint einer der Türsteher zu mir, wenn noch einmal etwas
sei, flöge ich raus. Ich weiß überhaupt nicht, was er meint, woraufhin er
meint, zwei Mädchen hätten sich über mich beschwert und dass er mich
rausschmeißen würde, sollte das nochmals vorkommen.
Nun gut. Sich mit russischen
Schränken alias Türstehern anzulegen, ist gleichzusetzen mit den Zeugen
Jehovas, die auch nur auf verschlossene Türen und Unverständnis treffen, teils
verlacht werden.
Deshalb verlasse ich den Club für
die geplante, dramatisch überfällige Zigarette und treffe auf meine völlig
aufgelöste beste Freundin, die ich im Getümmel verloren hatte.
Sie hatte einen Kerl einen Monat
lang gedatet, darauf mit ihm geschlafen, wonach er sich höchst eigenartig,
aversiv und uninteressiert gezeigt hatte. Seine Freunde meinten zu meiner
Freundin, er sei in einer existentiellen Krise, einer Selbstsuche. Und sie
wüssten selbst nicht einmal wirklich, was mit ihm los sei.
Nun hatte sie ihn allem Anschein
nach in dem Club bzw. in einem der beiden wieder gesehen und gesprochen. Sie
meinte, er habe fünf Koffeintabletten genommen, sich einen Joint einverleibt
und das Ganze noch mit viel zu viel Bier abgesegnet. Also hatte er seinen
Rucksack verloren und war kaum ansprechbar. Man sitzt bei bitterer Kälte vor
einem 15€-Eintritt-Club und fragt sich, wieso eigentlich. Während ich mir die
Geschichte vom abgestürzten, eigentlich so charmanten, klugen Ex-Beinah-Freund
anhöre, kommt ein Bekannter auf mich zu. Nett, etwas überdreht. Warum er mir
versichern muss, dass er fünf Koffeintabletten geschnupft und ein paar Liter
Bier dazu gemengt habe, verstehe ich nicht. Auf die, meiner Meinung nach
absolut legitimiert schockierte Frage, warum er so etwas tue und sich selbst
mit 16 Jahren zu Grunde richte, sagt er, dass er das immer tue.
Mit meinem Gesicht voller Zweifel,
die sich in Stirn und Augen abzeichnen, gehe ich zurück, um noch ein bisschen
zu tanzen. Zeuge Jehovas ahoi! Der Türsteher: „Du kommst hier nicht mehr rein.
Hast Hausverbot. Auch in der Rakete drüben. Du hast die beiden Mädchen sexuell
belästigt.“. Wenn sich meine Mimik als Zeichen eines noch größeren Schocks und gewaltigerer Sprachlosigkeit
verziehen kann, so tut sie es.
Ich versuche, mit möglichst klaren, simplen Worten, den Türsteher zu überzeugen, dass dies schlichtweg Verleumdung und eine dreist-falsche Unterstellung sei, da ich erstens schwul bin und die Geschichte so begann, als die beiden Mädchen mich ansprachen. Und von Sexuellem keine Spur. Sie hatten auf dem Pelzstirnband herum gehackt. Das war alles.
Ich versuche, mit möglichst klaren, simplen Worten, den Türsteher zu überzeugen, dass dies schlichtweg Verleumdung und eine dreist-falsche Unterstellung sei, da ich erstens schwul bin und die Geschichte so begann, als die beiden Mädchen mich ansprachen. Und von Sexuellem keine Spur. Sie hatten auf dem Pelzstirnband herum gehackt. Das war alles.
Gut, Tür zugeknallt, der Türsteher
wird ausfallend und ich gehe. Richtung „Rakete“, dem dazugehörigen Club nebenan
und frage dort nach, woher diese Schauermär rühre. Der dortige ist etwas
höflicher, aber genauso homophob und uneinsichtig. Mit einer gewaltigen Wut und
zugleich so müden Resignation im Magen, frage ich mehrmals nach den zwei
Mädchen, die ich angeblich belästigt haben soll.
Mr. „Taub“ meint nur, dass die
Chefin die Geschichte mitbekommen und ich deshalb Hausverbot habe. Auf mein
Drängen, die Chefin wegen der Angelegenheit sprechen zu wollen, um zu erfragen,
was denn ausschlaggebend gewesen sei, geht der Türsteher erst nach gefühlten
fünf Bitten ein. Ob er sie wirklich gesucht hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall
kommt er nach ein paar Minuten wieder und schickt mich fort, mit der
Begründung, sie wolle nicht mit mir sprechen und ich solle das Gelände
verlassen. Innerlich brodelnd, äußerlich gediegen, fällt mir nichts Besseres
ein, als dem Russen zu sagen, dass ich Pelz tragen würde, bis mir die Beine
abfallen würden, und die „Rakete“ und der „Hirsch“ nicht einmal mehr einen
Fitzel meines Arschlochs zu Gesicht bekämen, was er der Chefin gerne mit
freundlichen Grüßen ausrichten könne. Dass er das getan hat, wage ich zu
bezweifeln.
Um mein verpulvertes Geld
zurückzufordern, lief ich zur Kasse vor dem „Hirsch“ und just kommen zwei
Russen auf mich zu. In einem äußerst unfreundlich barschen Tonfall versichern
sie dem Zeugen Jehovas, der diesmal auf eine doppelte Wand trifft, dass es
keine Rückerstattung des Eintritts gäbe und ich das Gelände verlassen solle.
Der eine drückt den weißen
Wollmantel und mich zum Eingang hinaus. Ich koche weiter innerlich.
Draußen treffe ich wieder auf alle
Freunde, erzähle die Geschichte, die jeder mit einem erstaunten, schockierten,
entsetzten, zweifelnden Blick und offenem Mund, oder Gezeter über das
ignorante, homophobe Türsteher- und Chefinnen-Volk besiegelt.
Meine Freundin ist noch immer in
einer Phase des erstaunten Entsetzens über den Missbrauch der Koffeintabletten,
die eigentlich vor ein paar Jahren „in“ gewesen sind und anscheinend ein Comeback
durch die Nase erlebten. Kein Koks-Chic, sondern Koffein-Chic.
Man könnte meinen, man sei in den
schlimmsten Kreisen anzutreffen, was aber bei weitem nicht der Fall ist. Im
Gegenteil. Die meisten meiner bzw. unserer Freunde sind kreative, gebildete,
belesene junge Frauen/Männer. Und trotzdem gilt es noch so viel, das Ego durch
pausenlose Selbstreflexion durch andere zu stärken. Obwohl es nur schwächt und
krank macht.
Vor den Clubs berichtet mir ein
guter Freund, der Fotograf bei dem „Curt-Magazin“ ist, dass er wie immer auf
der Gästeliste stand, reingegangen ist, „abgestempelt“ wurde und ein paar Fotos
gemacht hatte. Als er nach einer Zigarette wieder hinein will, meinen die
Türsteher nur, dass er nicht mehr auf der Gästeliste stünde. Abgestempelt!
Einem Tollwutausbruch ebenso nahe
wie ich und meine beste Freundin, überlegten wir alle, was wohl in den
abgehobenen Schädeln der Türsteher und Chefs vor sich ginge. Meinten sie, ihre
beiden Clubs seien unantastbar und derart exklusiv, dass sie alles mit den
zahlenden Gästen machen konnten, wahnsinniger Drogen-Massenkonsum allerdings
ungeahndet blieb?
Paradox, aber wahr: Man kann sich
in einem Job als Fotograf für ein Magazin einen guten Namen machen, tolle
Bilder schießen und aus einem Club ohne jeglichen Grund rausgeschmissen werden.
Man kann sich gut anziehen, höflich und nett verhalten, und aus einem Club ohne
jeglichen Grund rausgeschmissen werden. Man kann sich betrunken, benebelt,
aggressiv, koffeiniert, 16-jährig in
einen Club schleichen, wird zur Gänze in einem Club akzeptiert.
Als meine Freundin und ich die
Nase gestrichen voll haben (nicht von Koffeintabletten, wie sich von selbst
versteht), brechen wir unbefriedigt und beschämt zu ihr nach Hause auf. Als wir
am Hauptbahnhof auf den Bus warten, kommt eine (geschätzt) 16-Jährige zu mir,
die dem ohnehin bereits fabelhaften Abend noch ein Krönchen aufsetzt: „Boah,
bist du eklig!“. Mein und das Gesicht meiner Freundin bis zur Unkenntlichkeit
in Falten des Unverständnisses verzogen. Facebook prallt auf die reale Welt.
Jeder sollte verstehen, dass es hier nicht wie auf Facebook zugeht, wo jeder zu
allem, sei es nun zu 3000 Bildern, Kommentaren, Pinnwandeinträgen, Nachrichten,
„Likes“ usw., seinen Senf dazu geben kann. Alles kann dort kommentiert werden
und das kann wiederum „geliked“ werden, sprich, als der eigenen Meinung
entsprechend erklärt werden. Profilierung und Selbstreflexion par excellence.
Keiner sagt auf facebook, dass dieser und jene Kommentar völlig daneben,
überflüssig sei oder unter die Gürtellinie ginge. Nein, zumeist werden diese
noch geliked und gefeiert, der überkommunikative, so unsichere und Bestätigung
suchende Alles-Kommentierer fühlt sich in der Tat bestätigt.
Und der Unterschied von einer
sinnfreien Website, die mittlerweile das reale Leben per Handy unheimlich weit
berührt, zum realen Leben wird verschwindend gering. Wie oft mir wegen eines
Outfits, einer Frisur, oder was auch immer, ein dummer Kommentar an den Kopf
geworfen wird, möchte ich hier aussparen. Hier ist NICHT facebook, sondern die
Welt, in der nicht alles kommentiert und gepostet werden darf. Es interessiert
niemanden, ob man sich hier massig profiliert und Statements zu Pelzen,
Schuhen, Frisuren abgibt oder nicht.
Ich kam nicht umhin mich zu
fragen, warum meine Freundin und ich in dieser von Facebook-, Drogen-, Alkohol-
und Profilierungssucht geschändeten jugendlichen Szene verkehren, die so falsch
ist, wie die 100 „Louis-Vuittons“ an speckigen Armgelenken von 14-jährigen
H&M-Shopaholics. Eine weitere Frage nach dem Abend: Wäre es nicht eine gute
Idee, in einem mit Exkrementen beschmierten Müllsack und auf Highheels das Haus
zu verlassen? Schlimmer könnten die verbalen Geschosse nicht mehr werden.
Dritte Frage: 15€ für gar nichts.
Warum sind wir nicht für das Geld ins Theater oder in ein Museum gegangen?
Aber letztlich bleiben alle Fragen unnütz. Geschehen ist geschehen. Ein die Augen öffnender, ein wenig Würde, Geld, Schlaf, Zeit und Energie raubender Abend.
Um für mich zu sprechen: Diese beiden Clubs, die sich so elitär und zugleich so armselig im Geiste bescheiden verhalten, werden keine Spur mehr von mir oder meinen Freunden zu sehen bekommen. Sie mögen doch bitte wieder auf den Boden kommen. Monika Kruse kannte ich nicht, hatte sie noch nie gesehen. Und das kann ich genauso heute noch im Präsens behaupten. Den Zeugen Jehovas wurde eine präsente, gewaltige Tür vor der Nase zugeschlagen, was sie wachgerüttelt hat, und sie sind nun dabei, eine offen stehende zu finden, die in einen angemessenen, würdevollen Raum führt.
Max-Michael Böhner
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